Bereits seit 2012 untersucht McKinsey mit dem Energiewende-Index halbjährlich den Status der Energiewende in Deutschland entlang der drei Dimensionen des energiewirtschaftlichen Dreiecks: Klima- und Umweltschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit. Innerhalb dieser Dimensionen werden insgesamt 15 Indikatoren analysiert und immer daraufhin bewertet, inwieweit sie ihre aktuell notwendigen Etappenziele mit Blick auf die Klimaziele 2030 erreicht haben.
Aktueller Energiewendeindex, September 2024
Die Abscheidung und Speicherung von Kohlenstoff könnte zu einem wichtigen Baustein für die Energiewende in Deutschland werden. Denn trotz zunehmender Nutzung von erneuerbaren Energien lassen sich nicht alle Sektoren durch grünen Strom dekarbonisieren, und nicht jede Industrie bietet sich für den Einsatz von grünem Wasserstoff an. Carbon Capture and Storage (CCS) könnte hier eine pragmatische Alternative bieten. Für die Abscheidung von Kohlendioxid in großen Mengen eignen sich insbesondere große stationäre CO2-Emittenten wie in der Grundstoffchemie, Eisen- und Stahlherstellung oder der Zementindustrie. Das Abscheidungspotenzial aus diesen Industrien beträgt technisch betrachtet rund 150 Mt im Jahr – ein Viertel der deutschen CO2-Emissionen. Dies geht aus dem neuen Energiewendeindex der Unternehmensberatung McKinsey & Company hervor.
Zehn größte CO2-Emittenten bereits mit 50 Mt Abscheidungspotenzial pro Jahr
„Derzeit fallen die Kosten für CCS noch so hoch aus, dass sich die Technologie für viele Marktteilnehmer nicht rechnet. Das könnte sich mit steigenden Zertifikatspreisen ändern – dann könnte CCS neben Wasserstoff eine von mehreren möglichen Optionen sein“, sagt Thomas Vahlenkamp, Senior Partner im Düsseldorfer Büro von McKinsey. „Allein von den zehn größten stationären CO2-Emittenten vornehmlich aus der Chemie-, Stahl- und Energiebranche, ließen sich fast 50 Mt CO2 pro Jahr unter die Erde befördern. Dazu bräuchte es jedoch ein klares Bekenntnis der Unternehmen und einen Zeitplan – denn die erforderliche Infrastruktur rechnet sich nur ab einer gewissen Größe.“
Im Frühjahr 2024 stellte das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz die Eckpunkte der Carbon Management-Strategie vor: Erstmalig soll die unterirdische CO2-Speicherung in größerem Umfang in der deutschen Nordsee erlaubt werden. Ferner können die Bundesländer Onshore-Speicherungen in ihren jeweiligen Landesgebieten beschließen. In Planung sind in Deutschland erste Großprojekte mit einer Abscheidungskapazität von rund 9 Mt pro Jahr; vorrangiges Einsatzgebiet ist die Zementindustrie. Spätestens Ende des Jahrzehnts sollen die Anlagen in Betrieb gehen.
Nach McKinsey-Analyse könnten in Summe rein technisch betrachtet pro Jahr 360 Mt Treibhausgas mittels CCS abgeschieden werden – dies entspricht mehr als der Hälfte aller CO2-Emissionen in Deutschland. Davon entfallen etwa 150 Mt auf Großemittenten, bei denen CCS zukünftig attraktiv sein könnte. „Allerdings bieten sich nicht alle Industrien gleichermaßen dafür an: Die Sektoren unterscheiden sich je nach Regulatorik, alternativen Technologieoptionen und Abscheidungskosten“, so Fridolin Pflugmann, Associate Partner im Frankfurter Büro von McKinsey. Berücksichtigt man außerdem die unterschiedlichen Aufwendungen für Transport und Speicherung je nach geografischer Lage der Emittenten, ergibt sich ein erstes Bild über die potenziellen CCS-Abscheidungsmengen und deren Kosten.
Chemische Industrie: Aus Kostensicht besonders vorteilhaft für CCS sind Industrien, die eine hohe CO2-Konzentration aufweisen. In der Grundstoffchemie, die pro Jahr rund 25 Mt emittiert, fällt Kohlenstoffdioxid häufig in sehr reiner Form als Nebenprodukt chemischer Prozesse an. Attraktive CCS-Anwendungsfälle sind beispielsweise die Ammoniak- und Ethanolproduktion: In diesem CO2-intensiven Sektor könnte CCS – selbst unter Hinzurechnung der Transport- und Speicherkosten – für einige Unternehmen mit Abscheidungskosten von 40-60 €/t bereits heute eine Option sein, sofern die nötige Infrastruktur vorhanden ist.
Eisen- und Stahlindustrie: Hier fällt die CO2- Konzentration in der Regel deutlich geringer aus; die Abscheidungskosten steigen entsprechend an auf 50-150 €/t. In der energieintensiven Eisen- und Stahlindustrie, die pro Jahr 50 Mt ausstößt, liegt die CO2-Konzentration bei 25 bis 30 %. Zusammen mit Transport- und Speicherkosten erscheint die Technologie gegenüber den aktuellen ETS-Preisen noch nicht attraktiv; zumal in der Eisen- und Stahlindustrie alternative Produktionsprozesse auf Wasserstoffbasis massiv gefördert werden.
Raffinerien: CCS-Verfahren eignen sich für Raffinerien (25 Mt p.a. – Abscheidungskosten von 60-120 €/t), etwa um die Emissionen abzuscheiden, die bei der Erzeugung von Prozesswärme entstehen. Für die Unternehmen interessant wäre der CCS-Einsatz aber auch für prozessbedingte Emissionen in chemischen Reaktionen, etwa beim Cracking, für die es bislang keine alternativen CO2-Vermeidungstechnologien gibt.
Zement- und Kalkindustrie: In der Zement- und Kalkindustrie, die rund 30 Mt pro Jahr emittiert, sind die Abscheidungskosten aufgrund der geringen CO2-Konzentration (20 bis 25 %) zwar vergleichsweise hoch (70-120 €/t). Dennoch wird die Branche oft als Musterbeispiel für CCS-Anwendungen aufgeführt, denn: Ein Großteil des Kohlendioxids lässt sich prozessbedingt nicht vermeiden. Hier kann bislang nur CCS Abhilfe schaffen, um das Netto-Null-Ziel in diesem Sektor zu erreichen.
Strom und Wärme: Das theoretisch größte CSS-Einsatzgebiet wäre der Strom- und Wärmesektor: Ein Großteil der CO2-Emissionen (rund 210 Mt p.a.) entsteht in diesem Bereich. Doch über 70 % davon werden nach wie vor in Kohlekraftwerken freigesetzt, die nach dem aktuellen Gesetzesvorschlag nicht für CCS zugelassen sind. Gaskraftwerke hingegen sollen prinzipiell CCS anwenden können. Allerdings ist die Abscheidung aufwendig, da der CO2-Anteil in den Abgasen bei unter 10 % liegt. Die CCS-Kosten liegen zwischen 80 und 170 €/t.
Abfall-, Zellstoff- und Papierindustrie: Prinzipiell für CCS-Einsätze geeignet sind die Abfallentsorgung sowie die Zellstoff- und Papierherstellung. Beide Branchen emittieren jeweils rund 5 Mt pro Jahr. Letztere verbrennt oft Nebenprodukte wie Rinde oder Holzreste, um Energie für den Produktionsprozess zu gewinnen. Da allerdings die Abscheidungsvolumina kleiner sind als in den vorgenannten Branchen und die CO2-Konzentration mit 5 bis 10 % noch geringer, liegen die Abscheidungskosten bei 140-160 €/t.
Vahlenkamp: „Ob sich der CCS-Einsatz für Unternehmen lohnt oder nicht, hängt derzeit vor allem von den CO2-Zertifikatspreisen ab: Mit steigenden ETS-Preisen könnte die Abscheidungstechnologie zunehmend an Attraktivität gewinnen. Das dürfte sich jedoch ändern, sollte grüner Wasserstoff zu wirtschaftlichen Kosten flächendeckend zur Verfügung stehen: Unternehmen aus der Eisen- und Stahlbranche oder Gaskraftwerke würden dann zur CO2- Vermeidung eher auf diese Technologie setzen.“ Zudem gelte es, die regulatorischen Rahmenbedingungen für CCS weiter zu konkretisieren. Darüber hinaus brauche es eine integrierte und langfristige Perspektive u.a. für die Pipeline-Infrastruktur, die Planungssicherheit gewährt und einen geregelten Hochlauf ermöglicht.
Energiewende-Index März 2024: Die 15 Indikatoren im Überblick
Die deutlichste Verschiebung im Energiewendeindex gegenüber der Veröffentlichung von März 2024 vollzieht sich in der Dimension Wirtschaftlichkeit: Der Haushaltsstrompreis fällt nach seinem kurzzeitigen Aufstieg in den Bereich der realistischen Zielerreichung wieder in die Kategorie „unrealistisch“ zurück. Damit sind aktuell sieben der insgesamt 15 Indikatoren realistisch und sechs unrealistisch in ihrer Zielerreichung. Zwei von ihnen – CO2e-Ausstoß und Reservemarge – stehen weiterhin auf der Kippe.
Sieben Indikatoren mit realistischer Zielerreichung
Der EE-Anteil am Bruttostromverbrauch ist in der ersten Jahreshälfte 2024 gegenüber dem zweiten Halbjahr 2023 von knapp über 50 % auf 58 % gestiegen und liegt auch deutlich über dem des ersten Halbjahrs 2023 (52 %). Das ist der höchste Wert seit Beginn der Energiewende. Der Indikator verbessert seine Zielerreichung von 109 auf 123 %.
Für den Primärenergieverbrauch wurden neue Hochrechnungen für das Jahr 2023 veröffentlicht. Demnach sank der Verbrauch gegenüber dem Vorjahr um 941 PJ auf zuletzt 10.735 PJ (-8,1 %). Die Zielerreichung beträgt aktuell 108 %. Der starke Rückgang resultiert aus der schwachen Konjunktur, einem milden Winter und steigender Energieeffizienz. Haupttreiber der Entwicklung waren die hohen Energiepreise und der EE-Ausbau im Stromsektor.
Für den Indikator EE-Anteil am Bruttoendenergieverbrauch liegen ebenfalls neue Zahlen für 2023 vor. Danach stieg der Anteil im Vergleich zum Jahr 2022 um 1,2 Prozentpunkte auf 22 %. Hauptreiber war auch hier die vermehrte Nutzung erneuerbarer Energien im Stromsektor – ein Anstieg um mehr als 5 Prozentpunkte. Mit 104 % Zielerreichung bleibt der Indikator damit stabil realistisch.
Der deutsche Industriestrompreis hat sich im Verhältnis zur europäischen Preisentwicklung spürbar verteuert. In der aktuellen Erhebung liegt er 12,6 % über dem Europa-Mittel, im Halbjahr zuvor betrug die Differenz nur 3,3 %. Ursache hierfür ist, dass die Preise im Ausland um 6 % gesunken sind, während sie in Deutschland um 2 % anzogen. Dennoch beträgt die Zielerreichung des Indikators immer noch 144 %. Der gute Wert liegt in der Berechnungsmethodik begründet: Steigen die Preise im europäischen Ausland stärker als in Deutschland, verbessert sich der Indikator – was in der Vergangenheit der Fall war. 2024 allerdings wird der deutsche Industriestrompreis voraussichtlich überproportional ansteigen, da der letztjährige Bundeszuschuss zu den Übertragungsnetzentgelten in Höhe von 12,8 Mrd. € nun wegfällt.
Für die Indikatoren Arbeitsplätze in erneuerbaren Energien sowie Ausfall Stromversorgung und Verfügbare Kapazität für Import aus Nachbarländern wurden keine neuen Daten veröffentlicht. Sie alle verbleiben jeweils im realistischen Bereich.
Zielerreichung für sechs Indikatoren unrealistisch
Viel drastischer als der Industriestrompreis hat sich der deutsche Haushaltsstrompreis verschlechtert. Lag er Ende 2023 noch 27,2 % über dem europäischen Durchschnitt, waren es im vergangenen Juni bereits 41,9 %. Die Zielerreichung fällt von 93 auf 36 % – damit rutscht der Indikator erneut in die Kategorie „unrealistisch“. Verantwortlich hierfür ist ein 7-prozentiger Rückgang der Haushaltstrompreise im europäischen Ausland, während sie in Deutschland um 3 % anzogen.
Bei den Gesamtenergiekosten Haushalte haben zwei gegenläufige Trends den Indikator leicht verbessert: Die Energiekosten sanken (hauptsächlich infolge des Rückgangs der Gaspreise) in den letzten 12 Monaten um 0,2 %, während die Inflation laut Verbraucherpreisindex bei 2,6 % lag. Damit hat sich der Anteil der Energiekosten am Gesamtwarenkorb von 9,6 auf 9,5 % verringert. Die Zielerreichung bleibt mit jetzt 54 % jedoch stabil unrealistisch.
Für den Indikator Sektorkopplung Wärme entfernt sich der Zielkorridor von 64 auf 55 %, da der EE-Anteil an der Wärmeerzeugung um gerade einmal 1,4 Prozentpunkte auf jetzt 18,8 % gestiegen ist. Grund für den leichten Anstieg ist der Rückgang des Wärmeverbrauchs im Jahr 2022/23 um 6 %. Um allerdings das 2030er-Ziel von 50 % Wärmeerzeugung aus Erneuerbaren zu erreichen, müsste der EE-Anteil jährlich um mehr als 4 Prozentpunkte steigen. Der Indikator verbleibt daher bis auf weiteres in der Kategorie „unrealistisch“.
Der Indikator Sektorkopplung Verkehr verringert seine Zielerreichung um weitere 3 Prozentpunkte auf 40 %. Im April 2024 fuhren in Deutschland knapp 2,4 Mio. Elektrofahrzeuge auf den Straßen – nach den Zielen der Bundesregierung hätten es (linear interpoliert) 5,7 Mio. sein sollen. Grund ist, dass die Zulassungswelle von 2020/21 merklich abgeebbt ist: Die Zahl der Neuzulassungen erreichte im vergangenen Halbjahr mit weniger als 200.000 den niedrigsten Stand seit drei Jahren. Das ist ein Fünftel dessen, was es pro Halbjahr braucht, um das Ziel von 15 Mio. E-Autos im Jahr 2030 zu erreichen.
Die Kosten für Netzeingriffe sind von 16,60 auf 13,20 €/MWh gesunken, aber immer noch weit von den angestrebten 1 €/MWh entfernt. Zumindest steigt der Indikator in seiner Zielerreichung von 0 auf 13 % (Abb. 5). Die Verbesserung resultiert aus den rückläufigen Kosten (-18 %) infolge gesunkener Großhandelspreise und einem geringeren Bedarf an Netzeingriffen.
Auch der Ausbau der Transportnetze bleibt mit einem aktuellen Zielerreichungsgrad von 41 % hinter seinen Zielen zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2023 wurden 236 km zugebaut; aktuell notwendig wären rund 600 km pro Halbjahr. Die Gesamtlänge beträgt jetzt 2.822 km und damit weniger als die Hälfte der angestrebten 6.474 km – trotz gesetzlich beschleunigter Genehmigungsverfahren.
Zwei Indikatoren auf der Kippe
Für den Indikator CO2e-Ausstoß wurden keine neuen Hochrechnungen veröffentlicht. Die Zielerreichung verharrt bei 95 %. Da laut Agora Energiewende nur rund 15 % der CO2-Einsparungen im Jahr 2023 auf langfristige Effekte zurückzuführen waren, befindet sich der Indikator weiterhin auf der Kippe.
Die gesicherte Reservemarge fällt im ersten Halbjahr 2024 massiv von 5,6 auf 0,9 %. Grund ist die Stilllegung von Kohlekraftwerken mit einer Kapazität von 4,7 GW, die vor zwei Jahren vorübergehend reaktiviert worden waren. Das geplante Aus für weitere Kohlekraftwerke könnte die Reservemarge noch in diesem Jahr zusätzlich verschlechtern, daher bleibt der Indikator trotz aktueller Zielerreichung von 104 % vorerst auf der Kippe. Ändern könnte sich dies allerdings, wenn die Bundesnetzagentur (wie schon seit 2021) Stilllegungen verhindert, um Versorgungsengpässe zu vermeiden.
Hintergrund und Methodik
Der Energiewende-Index von McKinsey bietet alle sechs Monate einen Überblick über den Status der Energiewende in Deutschland. Feedback und Rückmeldung dazu sind ausdrücklich erwünscht. Einen detaillierten Überblick über den Index und die untersuchten Indikatoren finden Sie unter https://www.mckinsey.de/energiewendeindex