Lebensmittelhersteller und -händler stehen vor einer schwierigen Aufgabe: Um Klimaschutzvorgaben und Konsumentenwünsche zu erfüllen, müssen sie zukunftsfähige Strategien in unterschiedlichen Dimensionen erarbeiten – vom biodiversen Ökosystem bis zur nachhaltigen Produktion. Insbesondere die Reduktion von Treibhausgasen (THG) ist in den gesellschaftlichen Fokus gerückt. Im Rahmen des European Green Deal ist es das erklärte Ziel der EU, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Dafür sollen nachhaltige Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion vorangetrieben und die EU soll zur Speerspitze einer innovativen Agrar- und Ernährungswirtschaft werden.
17%
beträgt der Anteil der Agrarwirtschaft
an den THG-Emissionen in der EU.
Voraussetzung dafür ist der Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette: Vom Feld bis zum Supermarktregal gilt es, den Lebensmittelsektor zu dekarbonisieren – derzeit ist er noch für etwa 17 Prozent der THG-Emissionen in der EU verantwortlich.
Nachhaltigkeit als Wettbewerbsfaktor
Die Gesetzgebung im Rahmen des Green Deal umfasst 25 Maßnahmen, die für den Lebensmittelsektor relevant sind. Sie lassen sich in vier Haupt- gruppen gliedern: Einführung von THG-effizienten landwirtschaftlichen Praktiken, Maximierung der Produktionsmengen durch veränderte Landnutzung, nachhaltige Herstellungsmethoden und Minimierung der Lebensmittelverschwendung. Zu den regulatorischen Vorgaben kommt der Verbrauchertrend zu mehr Nachhaltigkeit: Immer mehr Menschen achten beim Kauf auf Produkte, die emissionsarm oder sogar -frei hergestellt werden. Das belegt u.a. eine US-Studie von McKinsey und NielsenIQ, wonach Produkte, die mit Nachhaltigkeitsaspekten werben, im Schnitt 1,7 Prozent mehr Umsatzwachstum erzielen als solche, die keinen ökologischen oder sozialen Fokus in ihrer Markenkommunikation setzen.
Viele Marktteilnehmer haben Nachhaltigkeit inzwischen als Wettbewerbsvorteil erkannt: 40 Prozent der von McKinsey befragten Unternehmen setzen ESG-Prinzipien (Environmental, Social, Govern- mental) bereits in einem Teil ihres Produktangebots und ihrer Lieferkette um. Lebensmittelhersteller sind gut beraten, insbesondere die Emissionswerte entlang ihrer Produktionskette zu verstehen, zu quantifizieren und zu verbessern. Erste Schritte in diese Richtung sind bereits mit dem Greenhouse Gas (GHG) Protocol unternommen, dem am weitesten verbreiteten Standard zur Erstellung von THG-Bilanzen. Es schreibt vor, dass Unternehmen alle Emissionen erfassen und reduzieren, die direkt von ihnen kontrolliert oder verantwortet werden (Scope 1) – beispielsweise bei Produktionsanlagen, Heizung und Kühlung oder im Unternehmensfuhrpark. Auch indirekte Emissionen aus Strom, Fernwärme oder Wasserdampf, die in einem Betrieb entstehen (Scope 2), können so bilanziert und aktiv reduziert werden.
CO2-Blackbox Wertschöpfungskette
Ambitionierte Lebensmittelunternehmen stehen aber noch vor einer deutlich größeren Herausforderung: Sie wollen nicht nur die in den eigenen Werken entstehenden Emissionen erfassen und senken, sondern auch die ihrer Lieferanten (Scope 3). Diese Bilanzierung ist zwar laut GHG Protocol optional, doch für Unternehmen mit einer ganzheitlichen Klimaschutzstrategie unerlässlich. Der Grund: Scope-3-Emissionen machen mit bis zu 90 Prozent den Löwenanteil der Gesamtemissionen in der Branche aus. Und das Thema ist deshalb so komplex, weil es sich bei der Herstellung von
Lebensmitteln meist um Rohstoffe (z.B. Fleisch, Gemüse, Obst) und Produktionsanlagen (z.B. Getränkeabfüllanlage, Großbäckereien, Molkereien) handelt, die weder im Besitz von Lebensmittelherstellern und -händlern sind, noch von ihnen kontrolliert werden können. Einige Unternehmen gehen bereits Selbstverpflichtungen ein, ihre Emissionen (gemessen in CO2-Äquivalenten, CO2e) ganzheitlich zu reduzieren: Die Handelskette REWE verspricht, bis 2030 den CO2e-Ausstoß unternehmensweit um 30 Prozent gegenüber 2019 zu senken. Kaufland möchte seine betriebsbedingten Emissionen im selben Zeitraum um mehr als 80 Prozent reduzieren – und hat dafür bereits komplett auf Grünstrom umgestellt. Getränkehersteller PepsiCo hat sich vorgenommen, bis 2030 seine Scope-1-Emissionen um 75 Prozent und seine indirekten Emissionen (Scope 2) um 40 Prozent zu senken.Bis zu
90%
aller landwirtschaftlichen Emissionen entstehen in den Lieferketten.
In der gesamten Wertschöpfungskette (Scope 3) soll der CO2e-Ausstoß gegenüber 2015 ebenfalls um mehr als 40 Prozent verringert werden. Bis 2040 will PepsiCo, ähnlich wie die Carlsberg-Brauerei auch, vollständig klimaneutral produzieren.
Wissen, wo Emissionen entstehen
Andere Unternehmen sind noch nicht so weit. Bei ihnen fängt die Umsetzungsproblematik der Scope-3-Vorgaben schon damit an, dass sie ihre CO2e-Baseline, also ihre aktuellen Emissionswerte, gar nicht kennen. Und selbst wenn, weichen sie von den generell für Lieferketten erhobenen CO2-Werten oft erheblich ab. Das liegt vor allem daran, dass es bisher keine klare Scope-3-Reportingstruktur gibt. Um die großen Emissionstreiber benennen und angehen zu können, sind jedoch vergleichbare Daten, einheitliche Messmethoden und ein konkreter Handlungsplan nötig. Nur so können Unternehmen die international vereinbarten Klimaschutzziele erreichen und den Verbraucherwunsch nach mehr Nachhaltigkeit erfüllen.
Bei ihren Bemühungen, den eigenen CO2-Fußab- druck zu reduzieren, werden Lebensmittelhersteller von der Science Based Targets initiative (SBTi) begleitet, dem führenden Zusammenschluss global agierender Institutionen wie CDP, UN, WIR und WWF. Ihr gemeinsames Ziel ist die wissenschaftsbasierte Entwicklung und Erfassung von Klimawandeldaten und -zielen. Über 4.000 Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen arbeiten bereits mit SBTi zusammen – seit 2022 gibt es auch ein Monitoring für den landwirtschaftlichen Sektor.
Transparenz entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu schaffen, ist ein wichtiger erster Schritt. Denn erst so wird vollständig offengelegt, an welchen Punkten im Produktionsprozess und in welchem Umfang klimaschädliche Emissionen entstehen. Anschließend lässt sich gezielt dort ansetzen, wo CO2e am effektivsten reduziert werden kann.
Dekarbonisierung auf drei Ebenen
Ein Beispiel dafür, welche unterschiedlichen Emissionen entlang der Wertschöpfungskette anfallen können, bietet der Herstellungsprozess von Crème fraîche. 95 Prozent des CO2-Fußabdrucks eines 150-g-Bechers entstehen im landwirtschaftlichen Betrieb, hauptsächlich durch den Methanausstoß der Kühe (47 Prozent), durch Emissionen in der Futtermittelproduktion (30 Prozent) sowie durch Gülle und Mist (12 Prozent). Weitere 6 Prozent entfallen auf den Hofbetrieb, 3 Prozent verantworten die Verarbeitungsprozesse der Milch und 2 Prozent die Verpackung. Um diese Emissionen auszugleichen, müsste ein Becher Crème fraîche im Einzelhandel derzeit rund 14 Prozent mehr kosten.
Grundsätzlich lässt sich der CO2-Fußabdruck in der Lebensmittelindustrie in drei Kategorien unterteilen: Inhaltsstoffe und deren landwirtschaftliche Emissionen, Prozessierung und Verpackungsmaterial. Um in allen drei Dimensionen den CO2e-Ausstoß zu reduzieren, wäre Folgendes zu tun:
Emissionen produktionsspezifisch betrachten und angehen. Dazu gehören in der Crème-fraîche-Produktion die Emissionen aus Futtermittelherstellung, Kuhhaltung und Milchverarbeitung. Wie viele Emissionen insgesamt anfallen, ist individuell abhängig von den Anbau-, Produktions- und Lieferbedingungen.
So macht es in Bezug auf den Methanausstoß einen Unterschied, ob die milchgebende Kuh auf der hofnahen Weide grast oder ganzjährig im Stall steht und dort Kraftfutter frisst. Der Transport der Milch wiederum kann mit Diesel- oder E-Fahrzeugen erfolgen – was sich direkt auf die Emissionsbilanz auswirkt. Nicht zuletzt spielt auch die Entfernung zu den Verarbeitungsstandorten der Milch eine Rolle. Hier gilt es, flächendeckende Lösungen zu finden und umzusetzen.
Prozesse dekarbonis ieren. Zwar machen die Verarbeitungsprozesse nur 3 Prozent der Gesamtemissionen in der Crème-fraîche-Produktion aus. Doch grundsätzlich gilt: Je umfassender die Prozesskette optimiert wird – angefangen beim Ertrag des Futteranbaus über die gewählte Energiequelle bis hin zur Vermeidung von Verschwendung im Abfüllprozess –, desto größer ist der Einfluss auf die Emissionsbilanz der Lebensmittelproduktion.
Verpackungen nachhaltig gestalten. Ziel ist es, bei Behältern, Etiketten und Deckeln einerseits Material zu sparen und andererseits nachhaltigere Materialien zu verwenden. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Entwicklungsteams, dass Verpackungen nicht nur verkaufsfördernd gestaltet, sondern auch effizient zu transportieren sind und sich die Rohstoffe am Ende sortenrein trennen und recyceln lassen.
Klimaneutrale Produkte nur geringfügig teurer
Durch die Nutzung aller drei Hebel ist bereits heute eine nahezu oder komplett emissionsfreie Lebensmittelproduktion möglich. Die Mehrkosten dafür betragen nach aktuellen McKinsey-Analysen je nach Produktkategorie zwischen 1 und 14 Prozent. Dabei gilt generell: THG-Einsparungen sind bei Fleisch- und Milchprodukten wegen der initial höheren Emissionen in der Viehwirtschaft teurer als bei wenig verarbeiteten, pflanzlichen Produkten wie z.B. Äpfeln.
Unverarbeitetes lokales Gemüse, in Mehrwegstapelkisten abgepackt und auf kurzen Wegen per E-Mobil zum Händler transportiert – so können Lebensmittel schon jetzt klimaneutral hergestellt und vertrieben werden. Dennoch gibt es weiter- hin viel zu tun, denn nur wenige landwirtschaftliche Erzeugnisse sind mit heutiger Technik komplett emissionsfrei produzierbar. Das liegt vor allem daran, dass bei der Tierhaltung und Bodenbearbeitung unvermeidliche Emissionen anfallen.
Mit Value Chain Twins zum Ziel
Wo genau die Emissionstreiber schlummern, kann durch einen sogenannten Value Chain Twin auf- geschlüsselt werden – einen von McKinsey entwickelten digitalen Zwilling. Er macht für 15.000 Materialien transparent, an welchen Punkten der Wertschöpfungskette CO2 entsteht und wie es reduziert oder ganz vermieden werden kann. Unternehmen, die solche Twins nutzen, haben gute Chancen, in der Wertschöpfungskette Emissionen und damit Kosten zu sparen und so ihren Ertrag zu steigern.
14%
mehr würde ein klimaneutral hergestellter Becher Crème fraîche derzeit kosten.
Gleichzeitig verschaffen sie sich einen Vorteil gegenüber dem Wettbewerb, weil Konsument:innen zunehmend umweltbewusster werden und nicht nachhaltig agierende Unternehmen ab- strafen, indem sie zu Anbietern wechseln, die den Trend der Zeit erkannt haben. Kooperationen zahlen sich hier für Unternehmen aus: Weil dekarbonisierte Inhaltsstoffe, Produkte und Materialien derzeit nur eingeschränkt verfügbar sind, können Partnerschaften entlang der Wertschöpfungskette eine sinnvolle Option sein – etwa ein E-Traktor für den Hofbetrieb, mitfinanziert vom Rohstoffverarbeiter und Lebens- mittelhändler, damit sich die CO2-Emissionsbilanz für alle verbessert.
Die Unternehmen der Branche sollten die aktuelle Nachhaltigkeitsdynamik im Markt nutzen. Wer sich strategisch an den Vorreitern orientiert und sein Unternehmen mutig neu ausrichtet, hat gute Chancen, sich vom Wettbewerb zu differenzieren.