Perfektes Uhrwerk

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Perfekte Stürme hat der Einzelhandel immer wieder erlebt – und überlebt. Doch im letzten Jahrfünft hat der Sektor so viele Erschütterungen erfahren wie in 25 Jahren nicht. Kaum ist die Pandemiezeit überstanden, stürzen steigende Kosten und sinkende Konsumentenkaufkraft die Branche in die nächste Krise. Die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern geht weiter auseinander: Während die Top Ten der börsennotierten Einzelhändler in Europa inzwischen mehr als zwei Drittel des Branchenwerts erwirtschaften, geraten am anderen Ende der Skala immer mehr Unternehmen in die Schieflage. Die jüngsten Beispiele: Der Express-Lieferdienst Gorillas, noch vor zwei Jahren als Shootingstar gefeiert, fährt jeden Monat siebenstellige Verluste ein; Lager wurden dichtgemacht, zahlreiche Stand- orte in Deutschland aufgegeben. Traditionsreiche Bekleidungs- und Schuhhändler rutschten in die Insolvenz. Und der Warenhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof steht nach seiner erneuten Insolvenz zum Verkauf – die Zukunft der Filialen ist ungewiss.

Die Aufgabe: Kosten runter, Margen rauf

Die Wirtschaftlichkeit vieler Unternehmen wird zunehmend infrage gestellt: 88 Prozent der Topmanagerinnen und -manager in Europa sehen im wachsenden Margendruck eine der stärksten Bedrohungen ihrer Profitabilität. Auch weil sie die gestiegenen Kosten nicht mehr in voller Höhe an die Endkund:innen weitergeben können – zu sehr hat sich das Konsumverhalten gewandelt: Infolge sinkender Haushaltseinkommen kaufen die Menschen weniger als früher ein, greifen häufiger zu Eigenmarken und gehen vermehrt zum Discounter. Trends wie diese bringen die Gewinn- und Verlustbilanz der Handelsunternehmen zunehmend aus dem Gleichgewicht.

88%

der Einzelhändler fürchten aufgrund des Margendrucks um ihre Profitabilität.

So machen die operativen Kosten eines Modehändlers mittlerweile mehr als die Hälfte und teilweise bis zu 70 Prozent seiner Gesamtkosten aus. Allein die Ausgaben für die Beschaffung schlagen mit 34 bis 38 Prozent zu Buche. Für die Unternehmen wird es daher wichtiger denn je, ihre betrieblichen Strukturen und Prozesse auf Effizienz zu trimmen. Denn sie sind der stärkste Hebel, um zu alter Rentabilität zurückzufinden und neuen Wert zu schaffen.

Die Lösung: Drehen an allen Stellschrauben

Punktuelle Verbesserungen reichen indessen nicht aus. Um echte Kosteneffekte zu erzielen, muss der Betrieb als Ganzes in den Blick genommen und auf den Prüfstand gestellt werden. Die Entscheidung für eine solche Effizienzinitiative „end to end“ (E2E) ist alles andere als trivial: Silostrukturen müssen aufgebrochen, Prozesse umgestaltet, Fähigkeiten aufgebaut und neueste Technologien eingesetzt werden – und das auf allen Ebenen: von der Bestandsplanung bis zum Retourenmanagement und von der Strategie bis zum Operating Model.
E2E-Transformationen im Bereich Operations gehören deshalb ganz oben auf die Agenda der Unternehmensleitung. Doch der Aufwand lohnt sich. Denn nur ein perfekt laufendes betriebliches Uhrwerk kann das ökonomische Potenzial, das in den Geschäftsstrukturen und -prozessen eines Handelsunternehmens steckt, vollständig freisetzen. Um das Optimum herauszuholen, sollten Einzelhändler an allen Punkten der operativen Wertschöpfungskette ansetzen: Strategie, Planung, Beschaffung, Logistik und Abwicklung, Filialbetrieb, Retouren- management und Operating Model. Und idealerweise werden die Verbesserungen nicht Schritt für Schritt vorgenommen, sondern gehen direkt Hand in Hand.

Strategie: Konsequent kundenzentriert

Die große Klammer für alle Operations-Aktivitäten ist die konsequente Ausrichtung auf die Kundenbedürfnisse. Dazu braucht es eine genaue Kenntnis dessen, was Konsument:innen wirklich wollen, nämlich die richtigen Produkte zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und die Ansprüche steigen – Beispiel Schuhkauf: Eine junge Frau aus München sieht auf Instagram, wie eine Influencerin einen neuen Sneaker präsentiert. Sie möchte den Schuh noch am gleichen Tag haben, ist aber unterwegs und kann das Paket zu Hause nicht in Empfang nehmen. Eine App des Händlers mit Echtzeitverfolgung ihrer Bestellung würde ihr ermöglichen, Lieferort und -zeit kurzfristig zu bestimmen. Ihr Bruder auf dem Land hingegen braucht diesen Premiumservice nicht; ihm kommt es mehr auf eine kostenlose Lieferung an. Unterschiedliche Kundenwünsche optimal zu bedienen, erfordert zum einen umfassende Konsumentendaten und deren laufende Analyse. Zum anderen braucht es digitale Prozesse von der Bestandsplanung bis zur Auftragsabwicklung sowie eine flexible Supply Chain, die Produkte zuverlässig dorthin liefert, wo sie gerade verlangt werden. Eine kundenzentrierte Strategie ist daher das Herzstück erfolgreicher Betriebsabläufe.

Planung und Information: Kanalübergreifend und digital

Die operative Planung ist nicht einfacher geworden in Zeiten von rasch wechselnden Konsumententrends und Omnichannel. Der Vertrieb wird dezentraler, die Knotenpunkte im Netzwerk zahlreicher. Das erfordert differenzierte Vorhersagen, digitalen Informationsfluss und kanalübergreifendes Bestandsmanagement. Was gilt es zu ändern, um an jedem Punkt maximale Effizienz zu erzielen? In erster Linie Folgendes: Die Vorhersagen sollten für jeden Markt, jede Produktgruppe und jeden Vertriebskanal getroffen werden. Prognosemodelle auf Basis von Advanced Analytics und künstlicher Intelligenz (KI) helfen dabei, indem sie Szenarios zur künftigen Nachfrage auf Basis historischer Bedarfe und aktueller Markttrends entwerfen.

Kannibalisierungseffekte sind ebenfalls einzukalkulieren: Leidenschaftliche E-Commercer werden weniger in Läden einkaufen und umgekehrt. Der Informationsfluss wird mit digitalen Prozessen über alle Kanäle hinweg sichergestellt. Auch das Bestandsmanagement sollte kanalübergreifend digitalisiert sein. Über KI-gestützte Algorithmen lassen sich für alle Filialen und Distributionszentren die richtigen Volumina festlegen. Bei idealer Planung wird so wenig Kapital wie möglich in den Lagerbeständen gebunden, und Konsument:innen erhalten jederzeit volle Transparenz über die Verfügbarkeit ihrer Wunschprodukte.

Beschaffung: Blick auf die Eigenmarken

Die gestiegenen Einkaufspreise für Produkte und Materialien sind eine Hauptursache für den erhöhten Margendruck im Handel. Umso wichtiger wird es, die direkte und indirekte Beschaffung zu optimieren, denn hier schlummert hohes Einsparpotenzial. Das gilt vor allem für den Einkauf von Eigenmarken, die für die Kundenbindung besonders wertvoll sind. Eine Methode zur Stärkung von Margen und Wachstum in dieser Kategorie ist der Design-to-Value-Ansatz, der auf die Entwicklung und den Einkauf von Produkten mit maximalem Kundennutzen abzielt. Um die Beschaffungsfunktion insgesamt auf ein neues Level zu heben, empfehlen sich so genannte „Sourcing Factories“, die Prozesse standardisieren und Einkäufer auf ihre Verhandlungen mit den Zulieferern vorbereiten. Diese sollten stets faktenbasiert sein, etwa durch Sollkostenmodelle, Benchmarkdaten und Marktanalysen. So lassen sich versteckte Kostentreiber rasch identifizieren. Generative KI-Software kann hier genutzt werden, um z.B. Lieferantenprofile zu erstellen, Playbooks zu schreiben und Verträge zu entwerfen. Auch lohnt es sich, die Lieferantenbasis zu verbreitern, um sich unabhängiger von Supply-Chain-Risiken zu machen und neue Kundenbedürfnisse, etwa nach mehr Nachhaltigkeit, besser bedienen zu können.

Logistik und Abwicklung: Tempo ist Trumpf

Mehr Verkaufskanäle und gestiegene Kundenerwartungen stellen hohe Ansprüche an das Logistiknetzwerk und das System der Auftragsabwicklung (Fulfillment). Die vorhandenen Distributions- und Bearbeitungsstrukturen reichen oft nicht mehr aus, um den Anforderungen an Geschwindigkeit und Flexibilität gerecht zu werden. Neue Lösungen sind gefragt: Neben dem Einsatz von Chatbots für eine beschleunigte Kommunikation gehören dazu auch eine dezentral aufgestellte Transportlogistik (insbesondere auf der „letzten Meile“) und Dark Stores für die vollautomatisierte Abwicklung von Online-Bestellungen. Zudem können Partnerschaften helfen, die Herausforderungen zu bewältigen. Ein Weg ist z.B. die gemeinsame Lagerhaltung, wie sie Online-Modehändler Zalando zusammen mit dem Hersteller adidas betreibt: Ist ein Produkt im Zalando-Lager nicht verfügbar, werden die Bestellungen automatisch zum adidas-Lager weitergeleitet. Umgekehrt übernimmt Zalando zur Verkürzung der Lieferzeit die Auslieferung von Produkten, die über die adidas-Website bestellt wurden.

Filialbetrieb: Einkaufserlebnis und Effizienz durch Hightech

In Zeiten von Omnichannel wandelt sich die Rolle des Ladengeschäfts vom reinen Verkaufs- zum Erlebnisraum. Der Einsatz smarter Technologien kann diese Erlebnisse schaffen: Bilderkennungs- software und Augmented Reality verbessern den Kundenservice, IoT-Lösungen ermöglichen virtuelle Anproben und automatisierte Checkouts. Gleichzeitig helfen Vorhersagemodelle, den Personaleinsatz zu optimieren.

Bis zu

38%

der Gesamtkosten eines Modehändlers entfallen allein auf den Einkauf.

Die Steigerung der Profitabilität ist die zweite große Herausforderung für Filialbetriebe. Nahezu alle betrieblichen Abläufe im Laden können mithilfe digitaler Tools vereinfacht werden – von der Regalauffüllung bis zur Artikelverfolgung. Auch dem kostenträchtigen Warenschwund lässt sich entgegenwirken: Intelligente Kontrollsysteme ermöglichen es beispielsweise Lebensmittelhändlern, ablaufende Frischeprodukte automatisch herunterzusetzen, bevor sie unverkauft in der Entsorgung landen.

Retouren: Richtig managen, besser vorbeugen

An der Rücknahme von Produkten kommt kein Händler mehr vorbei, der seine Kundschaft halten will – und sie wird zum immer größeren Kostenfaktor. Um den Prozess so effizient wie möglich
zu gestalten, spielt auch hier Technologie eine Schlüsselrolle. Unternehmen wie ASOS, Amazon oder Nike setzen auf modernste Automatisierung, um eine schnelle und kostengünstige Abwicklung sicherzustellen. Gleichzeitig können Händler der Retourenflut auch vorbeugen, indem sie pünktliche Lieferungen sicherstellen und Kund:innen mithilfe von KI-gestützten Apps dabei helfen, auf Anhieb die passende Größe oder den richtigen Style zu finden.

Technologie: Fokus auf integrierte Lösungen

Digitale Vorreiter belegen es: Der Einsatz von Advanced Analytics, Machine Learning und künstlicher Intelligenz im operativen Geschäft steigert die EBIT-Marge um bis zu 3 Prozentpunkte. Vorausgesetzt, die Technologien werden nicht nur punktuell genutzt, sondern über alle Betriebsfunktionen hinweg: vom Planungsmodell über Preissetzungssoftware und datengetriebene Lieferantenverhandlung bis hin zum automatisierten Bestands-, Logistik- und Retourenmanagement. Nur integrierte Lösungen können das Potenzial ausschöpfen, das in der Digitalisierung operativer Prozesse steckt. Doch selbst die smartesten Technologien laufen nicht von selbst. Sie wollen richtig eingesetzt, bedient und gemanagt sein. Hier kommt das Operating Model ins Spiel.

Operating Model: Den Betrieb neu denken

Damit die E2E-Transformation im Handelsbetrieb zum Erfolg wird, muss das Operating Model von Grund auf umgestaltet werden. Es bildet das Fundament, auf dem alle Betriebsfunktionen basieren. Strukturen und Prozesse müssen neu designt, Fähigkeiten aufgebaut, Denk- und Arbeitsweisen an die veränderten Anforderungen angepasst werden. Im Performancemanagement wiederum sind die Leistungskriterien auf Profitabilität auszurichten und neue Anreize zu schaffen.

Bis zu

9%

profitabler werden Händler, die alle Effizienzhebel in ihren Operations nutzen..

Nur so lassen sich die angestrebten Einsparungs- und Margeneffekte über alle operativen Dimensionen hinweg realisieren.

Das Timing: Jetzt die Uhr ans Laufen bringen

Jeder Einzelhändler kann eine E2E-Transformation starten – ganz gleich, wo sein Betrieb gerade steht. Als Erstes sollte der aktuelle Reifegrad jeder einzelnen operativen Funktion ermittelt werden. Diese Analyse bildet die Basis für den weiteren Fahrplan und die Identifizierung der Bereiche mit dem größten Wertpotenzial. Bis zum Start konkreter Initiativen bleibt dann noch zweierlei zu tun: die Erarbeitung eines Governance-Modells zur effektiven Steuerung und eine überzeugende Change Story, die Mitarbeitende für die anstehende Reise motiviert. Der Einsatz wird sich in jedem Fall auszahlen. Einzelhändler, die alle Verbesserungshebel ziehen, können mit EBITDA-Steigerungen von 4 bis 9 Prozent und Kosteneinsparungen von bis zu 20 Prozent rechnen. Optimierte Kundenservices und Omnichannel-Angebote bergen ein zusätzliches Wachstumspotenzial von 10 bis 20 Prozent. Und am Ende profitiert nicht nur der Händler: Betriebe, die auf dem neuesten technologischen Stand wie ein Uhrwerk laufen, erzeugen bis zu ein Fünftel weniger Emissionen.

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