Für hitschies kam die Chance mitten im Corona-Lockdown. Die Produkte des rheinischen Süßwarenherstellers gerieten unverhofft zum Social-Media-Star – in Südkorea. Nachdem der örtliche Vertriebspartner berichtet hatte, dass die Kundschaft Videos liebt, in denen geräuschvoll gegessen wird, präsentierte sich hitschler-Chef Philip Hitschler-Becker selbst auf YouTube und TikTok mit seinen Produkten im Mund.
42%
der von McKinsey befragten mittleren Unternehmen halten die Inflation für das größte Wachstumsrisiko.
Und er beließ es nicht beim Marketing. In nur acht Wochen brachte er seine neuen „Drachenzungen“ aus Wassereis bis zur Marktreife. Heute zählt hitschler zu den Top-3-Anbietern von Süßwaren in Südkorea. Nach solchen Wachstumserfolgen suchen alle Unternehmen, ganz besonders in Zeiten ökonomischer Unsicherheit. Wie gehen die Führungskräfte der Konsumgüterindustrie Wachstum an? Mit welchen Herausforderungen rechnen sie in Zukunft? McKinsey hat hierzu 175 Topmanagerinnen und -manager von so genannten Midcaps befragt – Unternehmen mit einem Jahresumsatz zwischen 50 Millionen und 3 Milliarden Euro. Drei Ergebnisse stechen besonders heraus: Die wahren Wachstumschampions sind kleinere Midcaps unter 500 Millionen Euro Jahresumsatz. Sie sind doppelt so oft im Besitz ihrer Gründer oder von Wagniskapitalgebern. Und den größten Teil ihres Wachstums (59 Prozent) erzielen sie im Kerngeschäft, weitere 35 Prozent durch die Expansion in benachbarte Kategorien oder Märkte.
Neue Herausforderungen
Nicht alle Unternehmen gehen das Thema Wachstum so offensiv an, im Gegenteil. Die Stimmung vieler Führungskräfte ist gedämpft. Haben zwischen 2020 und 2022 noch rund 40 Prozent der Befragten jährliche Wachstumsraten von 10 Prozent und mehr verzeichnet, peilt diese Größenordnung für die nächsten drei Jahre nur noch jedes vierte Unternehmen an. Und die Gewinner der Vergangenheit werden nicht notwendigerweise die Champions von morgen sein: Kaum die Hälfte der Befragten (45 Prozent), deren Unternehmen bislang zu den wachstumsstarken zählte, geht davon aus, in Zukunft auf vergleichbare Zuwachsraten zu kommen oder sie gar zu übertreffen. Was hemmt die Unternehmen? Neben den großen Wachstumsbremsen infolge der Pandemie – Stichwort Lieferketten – stehen die Führungskräfte heute zusätzlich neuen Herausforderungen gegenüber. So sehen 42 Prozent der Befragten in der Inflation inzwischen eine der größten Wachstumshindernisse, 27 Prozent sorgen sich um das eingetrübte Konsumklima. Auch Süßwarenhersteller hitschler musste, wie Philip Hitschler-Becker gegenüber McKinsey erklärt, seine Preise im deutlich zweistelligen Prozentbereich anheben – teilweise bis über die magische Schwelle von 2 Euro pro Produkt. Ein Dauerthema bleiben der wachsende Wettbewerbsdruck und operative Herausforderungen. Mehr als ein Drittel der Unternehmen kämpft damit, jeweils verschieden ausgeprägt bei Herstellern und Händlern: Während das produzierende Gewerbe den Wettbewerbsdruck als größtes Wachstumshindernis betrachtet, sehen Managerinnen und Manager im Einzelhandel in ihrem derzeitigen Operating Model den stärksten Bremsfaktor. Was für die Unternehmen in Zeiten abrupter Marktveränderungen daher am meisten zählt, ist ein agiles Organisationssystem, das Herausforderungen, aber vor allem auch Wachstumschancen, früh erkennt und flexibel genug ist, um darauf zu reagieren.
Drei Ansätze zu mehr Wachstum
Welche Wege bieten sich nun den Unternehmen, die auch in volatilen Zeiten schnell und profitabel wachsen wollen? Die erfolgreichsten nutzen drei Ansätze, anstatt sich auf nur einen zu fokussieren: Sie stärken ihr Kerngeschäft, dringen in benachbarte Kategorien vor und wachsen durch Disruption.
Stärkung des Kerngeschäfts
Dieser Ansatz ist oft der effektivste Hebel und wird dennoch unterschätzt. Nur wenige Unternehmen erreichen ihre Wachstumsziele, ohne ihre Kernkategorien und -regionen zu stärken. Wer hingegen gezielt darauf setzt, erreicht mit einer Wahrscheinlichkeit von über 60 Prozent ein Wachstum, das über dem Markt liegt. Was tun die Kerngeschäftsspezialisten konkret? Sie erweitern den Kreis der Konsument:innen oder die Möglichkeiten, sie zu bedienen. Sie entwickeln sich zum Weltklassevermarkter oder Innovationstreiber. Sie beherrschen Sortiments- und Preisgestaltung, setzen auf Verkaufsförderung und investieren in den Handel. Ein Hebel allein genügt auch hier nicht, um langfristig erfolgreich zu sein: Außerordentliches Wachstum über große Zeiträume erfordert den richtigen Mix aus Verkaufssteigerung, Umsatzwachstum pro Einheit und Wachstum des Gesamtvolumens. So wie beim Schweizer Schokoladenhersteller Lindt: Das Unternehmen fokussierte sich konsequent auf seine Premiumkernmarken (u.a. Lindor und Excellence) und stärkte sein Qualitätsimage durch Above-the-Line-Marketing mit regionalen „Master Chocolatiers“. Die Akquisition der nordamerikanischen Premiummarke Ghirardelli rundete Lindts Kerngeschäftsausbau ab. Der Lohn war profitables Wachstum auch in Krisenzeiten, wie die Geschäftsberichte von 2009 bis zum letzten Pandemiejahr 2022 belegen: Die EBITDA-Marge kletterte von 15 auf 20,5 Prozent, der Umsatz wuchs um mehr als 6 Prozent pro Jahr.
Vordringen in benachbarte Kategorien
Unternehmen, die erfolgreich in angrenzende Kategorien einsteigen, erhöhen ihre Chancen, stärker als der Markt zu wachsen, um mehr als 20 Prozent. Anorganische Expansion ist hier die beste Strategie. McKinsey-Analysen legen nahe, dass programmatische M&A – ein Ansatz, bei dem regelmäßig kleinere Transaktionen „mit System“ durchgeführt werden – besonders effektiv sein können. Solche Kaufstrategien erzielten zwischen 2010 und 2019 höhere Überschussrenditen als selektive Ansätze oder „Big Deals“, die beide negative Renditen verbuchten. Unternehmen wiederum, die erfolgreich in neue Regionen und Märkte vordringen, wachsen mit einer Wahrscheinlichkeit von über 20 Prozent schneller als der Durchschnitt.
Nur
45%
der Unternehmen mit hohen Wachstumsraten rechnen mit einer vergleichbaren Entwicklung auch für die kommenden Jahre..
Wachstum durch Disruption
Innovationen bieten Zugang zu völlig neuen Märkten und Zielgruppen. Die irische Getränkemarke White Claw z.B. erfand eine neue kalorienarme und glutenfreie Alkoholkategorie für bewusst lebende Konsument:innen und traf damit einen Trend. Bereits nach fünf Jahren setzte das Unternehmen rund 2,3 Milliarden US-Dollar um; sein Marketing betreibt es fast ausschließlich über Social Media.Der Aufbau von Vertriebsplattformen bietet ebenfalls Aussicht auf disruptives Wachstum. Doch die wenigsten davon erreichen auch die kritische Größe, um sich durchzusetzen. Oft gibt es einen oder zwei Platzhirsche – und zahlreiche Mitbewerber, die um die verbleibenden 20 bis 30 Prozent des Marktes konkurrieren. Einfacher ist es für viele Unternehmen, an einer Plattform zu partizipieren, anstatt sie selbst aufzubauen. „
Die Wachstumsfavoriten
Von den drei beschriebenen Ansätzen hat die Stärkung des Kerngeschäfts den höchsten Stellenwert in Konsumgüterunternehmen: Mehr als die Hälfte ihres Wachstums wollen die Topführungskräfte über diesen Hebel generieren. Die favorisierten Maßnahmen auf Herstellerseite sind Produktinnovationen und Kategoriewachstum nahe dem Kerngeschäft. Wobei die Ambitioniertesten noch einmal eigene Prioritäten setzen: Im Fokus ihrer Wachstumsoffensiven stehen die Preisgestaltung, das Erobern neuer Märkte außerhalb des Kerngeschäfts und die Reintegration vorgelagerter Stufen der Wertschöpfungskette (Backward Vertical Integration). Einzelhändler wiederum setzen beim Kerngeschäft auf mehr Einkaufserlebnis, Sortimentserweiterung und Omnichannel-Integration. Diejenigen mit hohen Wachstumszielen konzentrieren sich vor allem auf den Sortimentsausbau, die Erschließung angrenzender Märkte und neue Vertriebskanäle. Allerdings stufen Händler mit sehr ehrgeizigen Wachstumszielen das Potenzial neuer Kanäle deutlich geringer ein (Platz 9 im Maßnahmenranking). Stattdessen setzen sie neben Innovationen verstärkt auf die Errichtung eigener Marktplätze. Schon jetzt zeichnet sich für alle Konsumgüterunternehmen ab: Mit zunehmender Volatilität und wachsendem Wettbewerbsdruck werden disruptive Wachstumsstrategien weiter an Boden gewinnen.
Steigende Investitionsbereitschaft
Um ihre Ambitionen zu realisieren, wollen Unternehmen in den kommenden Jahren mehr Kapital in die Hand nehmen. Der größte Anteil entfällt zwar nach wie vor auf Investitionen in Sach- und Vermögenswerte (Capex). Doch die ehrgeizigsten Unternehmen stellen die Konsument:innen in den Mittelpunkt und setzen deshalb Marketing ganz oben auf die Liste, gefolgt von Investitionen in Entwicklung und Innovation. Ein Umfrageergebnis fällt im Zusammenhang mit der Wachstumsfinanzierung besonders auf: Unternehmen, die in der Hand von Wagniskapitalgebern (Venture Capital) oder Beteiligungsgesellschaften (Private Equity) sind, peilen durchweg ein höheres Wachstum an als ihre Peergroup. Nicht zufällig handelt es sich dabei zumeist um Gründerunternehmen. Denn für Investoren ist der sogenannte „Babyfaktor“, wie Verlinvest-Manager Eric Melloul es nennt, ein entscheidendes Kriterium für ihr finanzielles Engagement. Soll heißen: Gründer:innen, die ihr Unternehmen als „Baby“ betrachten, setzen sich höhere Wachstumsziele und erreichen sie meist auch. Von ihrer Ambition und ihrem Commitment hängt ein Großteil des Unternehmenserfolgs ab.
Um
62%
erhöhen Unternehmen mit einem starken Kerngeschäft die Wahrscheinlichkeit, schneller zu wachsen als der Markt.
Ebenso wichtig für die Kapitalgeber sind Innovationskraft sowie eine Anreizstruktur, die nicht nur auf Gewinn, sondern zugleich auf Wachstum ausgerichtet ist. Viele Midcaps zeichnet zudem die Fähigkeit aus, mutig und risikobereit zu sein. Sie gelten darüber hinaus als flexibler, weil sie nicht durch komplexe Prozesse eingeschränkt sind, wie es häufiger in großen Unternehmen der Fall ist. Das beschleunigt ihre Entscheidungen und macht sie durchsetzungsfähig. Für alle Unternehmen der Branche gilt letztlich: Auch in diesen herausfordernden Zeiten wollen sie langfristig und rentabel wachsen. Das können sie, indem sie ihre Wachstumsstrategie mit klaren Zielvorgaben verknüpfen und den Erfolg ihrer Investitionen regelmäßig messen. Und in noch einem Punkt sind sich die Befragten in der McKinsey-Studie einig: Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, sich bietende Chancen rasch zu ergreifen. Manche sagen im Rückblick auf die vergangenen drei Jahre: Nichts bereuten sie mehr, als nicht schneller gehandelt zu haben.