Und knapp die Hälfte der Projekte überschreitet ihr Budget: Durchschnittlich kosten sie am Ende mehr als doppelt so viel wie geplant. Ob die Projekte auch den gewünschten Effekt haben, ist kaum nachzuvollziehen – nur drei von über 2.900 in der Studie untersuchten Projekten messen die Realisierung des Nutzens nach Projektende.
Die Herausforderungen zeigen sich in Deutschland besonders an behördenübergreifenden Großprojekten. Diese dauern oft mehr als fünf Jahre und haben Budgets im dreistelligen Millionenbereich oder höher. Gleichzeitig sind ihre Erfolge in der Öffentlichkeit bislang nur wenig wahrnehmbar: So entsteht der Eindruck, dass der Staat bei der Digitalisierung hinterherhinkt. Bei Projekten mit einer Laufzeit von mehr als fünf Jahren ändern sich zudem während der Umsetzung oft die technologischen und politischen Rahmenbedingungen. Wird daraufhin das Vorgehen angepasst, verursacht dies häufig weitere Kosten und Verzögerungen.
Damit behördenübergreifende Großprojekte künftig schneller mehr Nutzen liefern, braucht es neue Ansätze. Ein Ziel könnte sein, neue IT- und Digitalprojekte innerhalb einer Legislaturperiode erfolgreich abzuschließen. Dafür können eine Reform der verwaltungsinternen Governance, eine verbesserte Aufstellung der öffentlichen IT-Dienstleister oder auch digitaltaugliche Gesetze bessere Rahmenbedingungen schaffen.
Doch wie lassen sich spezifische Projekte so gestalten, dass ihre Erfolgswahrscheinlichkeit steigt? Die „Basics“ sind längst bekannt – dazu gehören z.B. klar definierte Projektziele, das Einbeziehen von Nutzenden, verlässliche Schätzungen und Planungen sowie der Einsatz von erprobten Technologien und Standardlösungen. Das Bundesverwaltungsamt fasst die relevanten Aspekte in seiner „SOS-Methode“ prägnant zusammen. Doch gerade behördenübergreifende Großprojekte bringen spezifische Herausforderungen mit sich. Erfahrungen aus solchen Vorhaben in Deutschland und internationale Erfolgsbeispiele zeigen, dass insbesondere sieben „Nutzenbeschleuniger“ helfen können, solche Großprojekte schneller und besser umzusetzen.
1. Ohne "Nutzeninkasso" keine Mittel freigeben
Ein Projekt lässt sich nur dann sinnvoll planen und umsetzen, wenn klar ist, welcher Nutzen erzielt werden soll, und wenn der Fortschritt regelmäßig gemessen wird. Dann ist es möglich, Ressourcen zielgerichtet einzusetzen und nachzusteuern, wenn der Erfolg nicht rechtzeitig eintritt.
Warum ist dies für behördenübergreifende Großprojekte herausfordernd? Solche Vorhaben basieren meist auf politischen Entscheidungen. In den entsprechenden Gesetzen oder politischen Erklärungen werden typischerweise abstrakte Ziele formuliert, um die Interessen möglichst vieler Stakeholder zu berücksichtigen. Dabei sind meist noch keine messbaren Nutzenindikatoren definiert. Dies wäre die Aufgabe der Projektverantwortlichen, die jedoch nach Antritt ihrer Position meist unmittelbar unter Umsetzungsdruck stehen. Die eigentlich unverzichtbare Abstimmung mit den Stakeholdern darüber, wie der Nutzen beziffert wird und wann er realisiert sein sollte, wird deshalb oft vernachlässigt.
Was kann eine Lösung sein? Projektverantwortliche müssen die Möglichkeit haben, ihr Vorgehen zu konkretisieren und zu pilotieren, bevor sie fest zusagen, wann welcher Nutzen eintritt und wie er zu messen ist. Nach einer Startphase mit klar definiertem Zeit- und Kostenrahmen sollte die Politik dann keine weiteren Mittel freigeben, ohne dass ein „Nutzeninkasso“erfolgt.
Praxisbeispiel. Die britische Regierung hat 2022 festgelegt, dass 75 Leistungen für Bürger:innen und Unternehmen bis 2025 online verfügbar sein und die Bewertung „great“ erhalten sollen. Dazu hat sie messbare Kriterien dafür definiert, wann ein digitaler Service als nutzerfreundlich, barrierefrei und effizient gilt. Über die Zielerreichung wird an Parlament und Öffentlichkeit berichtet.
2. Legoprinzip nutzen
Großprojekte können nur erfolgreich sein, wenn das Vorhaben im verfügbaren Zeitraum zu bewältigen ist. Dazu sollte der Gesamtumfang zerlegt werden in kleine, für sich genommen funktionsfähige Bausteine. Viele private Unternehmen folgen mittlerweile der Faustregel, dass ein Umsetzungsmodul nicht länger als drei Monate dauern und nicht mehr als 300.000 EUR kosten sollte.
Warum ist dies für behördenübergreifende Großprojekte herausfordernd? Theoretisch istdas Potenzial gemeinsamer digitaler Lösungen der Verwaltung hoch – sie können die Nutzerfreundlichkeit erhöhen und ermöglichen Synergien bei den IT-Ausgaben. Doch die Realisierung dieser Vorteile erfordert meist eine aufwändige Koordination. Behördenübergreifende Initiativen streben oft „große Lösungen“ an, die zahlreiche Nutzenpotenziale gleichzeitig erschließen sollen. Damit steigt jedoch das Risiko für Zeitverzug, Budgetüberschreitung oder nicht funktionstüchtige Produkte.
Was kann eine Lösung sein? Erfolgreiche Vorhaben verfügen durchaus über eine ambitionierte Vision, setzen aber realistische Zwischenziele und priorisieren die Bausteine, die rasch den größten Nutzen schaffen. Weitere Module können in späteren Phasen umgesetzt werden, falls die ersten Schritte erfolgreich waren.
Praxisbeispiel. In Singapur sind heute viele Bürgerdienste in einer App vereint (Life SG). Deren erste Version konzentrierte sich zunächst auf die Bedürfnisse junger Eltern und Familien; Leistungen für weitere Zielgruppen und Lebenslagen wurden sukzessive hinzugefügt. Singapur nähert sich so schrittweise der Vision, Verwaltungsleistungen in einer App zu bündeln – ohne gleich die volle Komplexität einer behördenübergreifenden Transformation bewältigen zu müssen.
3. Mit gutem Narrativ überzeugen
Damit ein Projekt erfolgreich umgesetzt wird, müssen sich die wichtigsten Akteure über das gemeinsame Ziel und den Weg dorthin einig sein.
Warum ist dies für behördenübergreifende Großprojekte herausfordernd? Solche Projekte haben meist zahlreiche Stakeholder, die nicht Teil der umsetzungsbeauftragten Organisation sind. Projektverantwortliche können Veränderungen deshalb nicht über Weisungsbefugnisse durchsetzen. Gelingt es ihnen nicht, die Beteiligten durch überzeugende Kommunikation für die Mitarbeit und Unterstützung zu gewinnen, ist der Projekterfolg gefährdet.
Was kann eine Lösung sein? Die Verantwortlichen müssen eine überzeugende Veränderungsgeschichte („Narrativ“) formulieren und an die Akteure kommunizieren. Dieses Narrativ erklärt, warum die geplanten Veränderungen für die Beteiligten von Vorteil sind und funktionieren werden. Ein professionelles Kommunikationsteam kann bei dieser Aufgabe unterstützen. Darüber hinaus sind Multiplikator:innen in allen projektrelevanten Organisationen erforderlich. Das zentrale Team kann sich dazu mit den Kommunikationseinheiten der beteiligten Organisationen vernetzen. Einige Projekte setzen zudem auf charismatische Führungspersönlichkeiten, die eine Veränderungsgeschichte besonders gut vermitteln können.
Praxisbeispiel. Was ein überzeugendes Narrativ bewirken kann, zeigt die rasante Digitalisierung der Verwaltungsangebote der Stadt Kyjiw. Bürgermeister Vitali Klitschko prägte nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 den Slogan „Resilienz durch Digitalisierung“. Hierzu leistet die App Kyjiw Digital einen kritischen Beitrag. Die App umfasst verschiedene Dienste, die den Menschen das Leben in Kriegszeiten erleichtern und sicherer machen. Ursprünglich für den öffentlichen Nahverkehr konzipiert, wurde Kyjiw Digital nach Kriegsbeginn innerhalb weniger Monate um zahlreiche Angebote erweitert. Heute nutzen mehr als 80% der Einwohner:innen von Kyjiw diese App.
4. Dem schleichenden Gremientod vorbeugen
In großen IT- oder Digitalprojekten sind permanent Entscheidungen gefragt: Welche Technologie soll verwendet werden? Welche Funktionalität ist notwendig, welche verzichtbar? Wann kann eine Lösung in den Betrieb gehen? Für eine schnelle und erfolgreiche Projektumsetzung ist es notwendig, solche Entscheidungen möglichst rasch zu treffen.
Warum ist dies für behördenübergreifende Großprojekte herausfordernd? In der öffentlichen Verwaltung gibt es zahlreiche Koordinierungsgremien (z.B. IT-Planungsrat, IT-Rat und Fachministerkonferenzen), die häufig auch Projekte steuern. Diese Gremien tagen meist in größeren Zeitabständen und in den Sitzungen konkurrieren zahlreiche Themen um Aufmerksamkeit. Zudem haben viele der Teilnehmenden nur begrenztes fachliches und technisches Wissen zu den Inhalten spezifischer Projekte. Häufig gilt auch das Einstimmigkeitsprinzip, das notwendige Entscheidungen erheblich verzögern kann.
Was kann eine Lösung sein? Behörden können ein Steuerungsgremium einrichten, das sich mit nur einem Projekt befasst. Bestenfalls entscheidet dieses Gremium autonom über ein mehrjähriges Budget und ist nicht zu eng an den jährlichen Haushaltszyklus gebunden. Die Mitglieder sollten erfahren sein und über die relevante fachliche und technische Kompetenz verfügen. An wichtigen Entscheidungen sollte zudem die minimale Anzahl von Stakeholdern beteiligt sein und bei Abstimmungen sollte es möglichst wenige Vetorechte geben. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, steigen die Chancen, dass Entscheidungen schnell und fachkundig getroffen werden.
Praxisbeispiel. Das Programm Polizei 20/20 (P20) schafft eine gemeinsame IT-Plattform für digitale Polizeiarbeit in Bund und Ländern. Gesteuert wird es von einem eigens geschaffenen Verwaltungsrat, der über ein mehrjähriges Budget verfügt und fachliche sowie technische Richtungsentscheidungen trifft. Eine Geschäftsstelle und ein externes Controlling unterstützen den Verwaltungsrat. Somit ist P20 weniger abhängig von den Bestandsgremien der Innenministerkonferenz. Viele Stakeholder sehen darin den Vorteil, Entscheidungen schneller und fundierter abstimmen zu können.
5. Moderne Plattformarchitektur wagen
IT-Großprojekte sollten auf zukunftssichere, zeitgemäße Technologien und Plattformarchitekturen setzen, die eine schnelle Entwicklung und Skalierung erlauben.
Warum ist dies für behördenübergreifende Großprojekte herausfordernd? Behördenübergreifende Projekte sind meist mit einer komplexen Landschaft von Bestandssystemen konfrontiert und viele Beteiligte wollen die gewohnten Funktionalitäten beibehalten. Daher streben die Verantwortlichen oft eine Interoperabilität mit bestehenden Lösungen an. Dies kann sinnvoll sein, aber es kann auch zu verpassten Chancen führen. So einigten sich Bund und Länder 2018 zunächst darauf, eigene Nutzerkonten für ihre jeweiligen Verwaltungsportale zu behalten oder neu zu entwickeln – diese aber interoperabel zu gestalten. Aufgrund technischer Schwierigkeiten und der fehlenden Vorteile aus Bürgersicht, haben Bund und Länder 2024 entschieden, auf die interoperablen Nutzerkonten zu verzichten – stattdessen soll es eine gemeinsame Lösung geben. 10 Im laufenden Betrieb können so voraussichtlich jährliche Kosten von 10 Mio. EUR eingespart werden.
Was kann eine Lösung sein? Projekte können auf neutrale Expertise setzen, um sicherzustellen, dass das technische Lösungsdesign zeitgemäß ist und nicht durch Partikularinteressen beeinflusst wurde. Sinnvoll ist hier insbesondere das Einbinden von Fachleuten aus der Privatwirtschaft, die den Stand der Technik einschätzen können (aber kein eigenes kommerzielles Interesse an dem Projekt haben).
Praxisbeispiel. Dänemark hat einen IT-Expertenrat mit Vertreter:innen aus Verwaltung und Privatwirtschaft etabliert. Dieser bewertet für jedes Vorhaben mit Kosten über 2 Mio. EUR (15 Mio. DK), ob Vorgehen und technische Architektur zielführend und zukunftsfähig sind. Seit 2011 hat der Rat mehr als 150 solcher Beurteilungen durchgeführt und so zum international anerkannten Erfolg der Verwaltungsdigitalisierung in Dänemark beigetragen.
6. Richtiges Team am richtigen Platz einsetzen
Das Leitungsteam für ein IT-Großprojekt benötigt eine breite Palette von Wissen und Fähigkeiten. Dazu gehören ein tiefes Verständnis der fachlichen Belange, Nutzerbedürfnisse und rechtlichen Rahmenbedingungen, Kenntnisse im klassischen und agilen Projektmanagement sowie hohe Technologiekompetenz. Nur wenige Personen erfüllen all diese Voraussetzungen gleichzeitig – interdisziplinär aufgestellte Teams sind deshalb unerlässlich.
Warum ist dies für behördenübergreifende Großprojekte herausfordernd? Karrierewege in der öffentlichen Verwaltung begünstigen einen Fokus auf fachliche und juristische Fähigkeiten. So verfügen die Leitungsteams für große IT-Vorhaben oft nicht über alle notwendigen Kompetenzen. Hinzu kommt, dass Teams, die in klassischen Behördenstrukturen arbeiten, mehr Zeit mit aufwändigen Abstimmungen und der Kommunikation der Projekterfordernisse verbringen, als dies in einer agil arbeitenden Organisation notwendig wäre.
Was kann eine Lösung sein? Die Federführung für wichtige Vorhaben kann an Innovationslabore übertragen werden. Für diese Einheiten lassen sich Teams mit allen erforderlichen Kompetenzen zusammenstellen – inklusive Talenten aus der Privatwirtschaft. Innovationslabore bieten zudem die Möglichkeit, bestimmte Fähigkeiten gezielt zu stärken, ein Ökosystem aus geeigneten Partnern aufzubauen und Projekte abseits bremsender Strukturen agil durchzuführen.
Praxisbeispiel. Das Innovationslabor Baden-Württemberg hat Talente mit Verwaltungserfahrung und hoher Technologiekompetenz angeworben und vernetzt sich intensiv mit der GovTech-Szene, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Es arbeitet entkoppelt vom täglichen Verwaltungsablauf, mit direkter Steuerung durch die politische Leitungsebene der Landesregierung. So ist es z.B. gelungen, den souveränen KI-Assistenten F13 innerhalb weniger Monate als Prototyp zu entwickeln. Nach etwa 1,5 Jahren Projektlaufzeit wurde er in der gesamten Landesverwaltung ausgerollt und Behörden in ganz Deutschland angeboten.
7. „Rotes Telefon“ einrichten
Große IT- und Digitalprojekte benötigen von der politischen Leitungsebene oft kurzfristige Entscheidungen zu einer Sachfrage, die Freigabe von Ressourcen oder auch nur ein öffentliches Signal der Unterstützung für das Vorhaben.
Warum ist dies für behördenübergreifende Großprojekte herausfordernd? Häufig sind die Projektverantwortlichen in komplexe Hierarchien und Gremien eingebunden – entsprechend lange kann es dauern, bis ein Anliegen die politische Ebene erreicht.
Was kann eine Lösung sein? Große IT- und Digitalprojekte sollten politische „Sponsor:innen“ haben. Sind diese schwer zu finden, so ist das Projekt generell zu hinterfragen. Die Projektleitung sollte mit diesen Personen in direktem Kontakt stehen, ihr Vorgehen erläutern und mögliche Hindernisse frühzeitig benennen. Das „rote Telefon“ kann Entscheidungen mit einem politischen Charakter deutlich beschleunigen und die Politik erhält damit mehr Einblick in den Fortschritt und die Herausforderungen wichtiger Vorhaben. Gleichzeitig sollte sie Entscheidungsbefugnisse so weit wie möglich an Projektverantwortliche oder entscheidungsfähige Gremien delegieren, um mögliche Engpässe und Verzögerungen bei der Steuerung zu vermeiden.
Praxisbeispiel. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) musste von 2015 bis 2016 eine besonders hohe Zahl von Asylanträgen bearbeiten und Maßnahmen ergreifen, um Rückstände zu reduzieren. Daraufhin startete das BAMF ein umfassendes Programm und erneuerte z.B. die IT. Viele führen das schnelle Gelingen der ergriffenen Maßnahmen auf den Schulterschluss zwischen politischer Leitung und Verwaltung zurück.
Die schleppende Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung zeigt: Eine „Umsetzungswende“ ist dringend erforderlich. Die sieben genannten Maßnahmen können helfen, behördenübergreifende IT- und Digitalprojekte besser zu planen und durchzuführen – damit kein Vorhaben mehr länger als eine Wahlperiode benötigt, um echten Nutzen zu liefern.
Download Artikel "Umsetzungswende für die Verwaltungsdigitalisierung - Großprojekte in einer Legislatur erfolgreich realisieren"
Autor:innen: Björn Münstermann ist Senior Partner bei McKinsey, Julia Klier ist Senior Partnerin, Axel Domeyer ist Partner, und Marina Lessig ist Managerin bei ORPHOZ, einer 100%igen Tochtergesellschaft von McKinsey